VISIT LINZ
06.03.2020

Schockierend happy. Über die Entdeckung von Comics.

In Linz findet das alljährliche NextComic-Festival statt. Und: Seit 2009 lässt es die Entdeckung zu, warum der Comic seit den Neunzigern zu einer eigenständigen Kunstform erhoben wurde, die Bildende Kunst und Literatur miteinander vereint, gegenwärtige gesellschaftliche Strömungen thematisiert und künstlerisch verarbeitet

Ein Comic ist laut Wikipedia eine Folge von mindestens zwei Bildern, die eine Geschichte erzählt.

Beispiel I.

Bild 1: Der Herrenbesuch steht vom Sofa auf, wo wir beide sitzen/ Sprechblase Ich gehe nur schnell zur Toilette. Bild 2: Zwischentext Eine Stunde später. Ich bin noch immer allein auf dem Sofa und wundere mich (Fragezeichen über dem Kopf), warum er nicht wiederkommt. Bild 3: Ich öffne die Tür zum WC und sehe den Herrenbesuch auf der Toilette sitzend (schockierend!, sagen wir: auf dem geschlossenen Toilettendeckel). Er liest in einem Comic.

Happy.

Was erzählt das? - Der Herrenbesuch hat meine Comicsammlung entdeckt. In dem Stapel türmen sich neben Donald Ducks aus den Siebzigern Lucky Lukes aus Anfang der Achtziger. Und die Erinnerung daran, dass meine Eltern Comics für Schund hielten, die das Kind (ich) besser heimlich liest (auf der Toilette, Fragezeichen?) und als Fluchtversuch aus der Welt verachteten. Ja, Comics waren bis in die Neunziger als Massenware verpönt, die Genderstereotype bedienen und Kinder vom Lesen fernhalten.

Schockierend.

Beispiel II.

Bild 1: Der Herrenbesuch und ich auf dem Sofa/ Sprechblase Komm, gehen wir irgendwohin. Bild 2: Der Herrenbesuch und ich in den Straßen von Linz, aber weit und breit sind keine Menschen zu sehen (Fragezeichen über unseren Köpfen/ Sprechblase Wieso ist keiner draußen?) Bild 3: Wir treten ins OÖ Kulturquartier. Dort herrscht Jubel und Trubel. Comiczeichner und Zeichnerinnen lassen sich über die Schulter schauen, überall lesen die Leute und blättern in Neu-Erscheinungen und reden und befragen Künstlerinnen und Künstlern.

Happy.

Die Hauptfigur aus meiner fiktiven Bildgeschichte bin ich selbst, aber insofern fiktiv, als dass ich weiß, wann das Festival stattfindet und deshalb zielgerichtet vom Sofa aufstehen werde und mich (statt zur Toilette) ins Kulturquartier oder wahlweise ins AEC, auf die Florentine, ins Atelierhaus, sagen wir kurz: mich in ganz Linz bewege. Die Aufzählung der involvierten Veranstaltungsorte sprengte den Rahmen dieser Geschichte (mit wenigen Bildern).

Das Festival entdeckte ich für mich ganz real, seit ich und meine damals zehnjährige Tochter 2017 das erste Mal dorthin gingen, um uns von Mumin-Übersetzer Matthias Wieland die Mumin-Geschichten nicht nur in Bildern, sondern mit seiner Stimme in verschiedenen Rollen und mit virtuosem Ukulele-Spiel vorführen zu lassen, und auf diese Art die Nähe von Comic zu Bilderbuch und Film entdeckten. Und dann entdeckten wir noch den Comic Mein Leben als Zehnjährige, in dem Riad Sattouf die zehnjährige Esther zur Hauptfigur und Ich-Erzählerin macht, in dem er das Tagebuch seiner Nichte bebilderte. Wir entdeckten außerdem: Die Gedanken einer Zehnjährigen eignen sich hervorragend, um andere Zehnjährige happy zu machen.

Und mich. Ob ich mit Herrenbesuch hingehen werde oder allein? - Fragezeichen über dem Kopf.

Aber es wird wie immer für alle etwas dabei sein: Fiktive Hauptfiguren, Herrenbesuche, misstrauische Eltern und zehnjährige Töchter. Zumal dieses Jahr das Thema Rollenbilder künstlerisch aufgegriffen wird, das aus Herrenbesuchen partnerschaftliche Männer werden lässt, aus passiv wartenden Frauen auf dem Sofa aktive Teilnehmerinnen am Weltgeschehen, aus ängstlichen Bildverweigerinnen künstlerisch Interessierte und aus comiclesenden Kindern Weltengestalterinnen.

Und was erzählt das? - Niemand muss sich auf die Toilette zurückziehen, um Comics zu lesen. Donald Duck und Lucky Luke haben mich nicht verblödet. Literatur und Bildende Kunst vertragen sich auf engstem Raum. Comics erkennen gesellschaftlich Strömungen und reagieren darauf (der erste bekennende schwule Superheld stammt aus der Reihe der X-Men - schockierend!). Der Comic erschafft Welten und diskutiert den Raum der Möglichkeiten, den möglichen Zukunftsraum, ernst, verspielt, anspruchsvoll, klar.

Comics erzählen eine Geschichte in Bildern. Und noch viel mehr als das.
Happy und schockierend.

Ah und noch ein Sache, schreibt Esther in ihrem Tagebuch, als sie nach den Ferien das erste Mal ihre Freundin Eugénie wiedersieht: voll schockierend: Sie hat jetzt auch Brüste.

Next Comic-Festival

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